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Cara

[Mehirische Legende]

Vor Zeiten lebte in Sturmland der König Gooren und seine Gemahlin Halna; sie hatten eine liebliche Tochter, die den Namen ihrer Mutter trug. Jedermann pries ihre Anmut und ihren Liebreiz, und bald drang der Ruf von Halna Schönheit über Land, und viele edle Freier aus königlichem Blut kamen an den Hof, um sie zum Weibe zu gewinnen.

"Ich werde nur dem die Hand meiner Tochter geben", erklärte König Gooren hart, "der mich im Wettkampf besiegt." Viele Bewerber hatte er schon bezwungen und erschlagen.

Damals herrschte im Hegenland König Hetel, dessen Reich sich von Bergland bis zu den Wildlanden erstreckte. Sein Wunsch war es, die schönste Fürstentochter als Gemahlin an seiner Seite zu haben, und so entsandte er drei getreue Helden zur Brautwerbung: seinen Waffenmeister Wate, den gewaltigen Recken, den sangeskundigen Horand, seinen Schwestersohn aus Bergland, und den klugen Frute, dessen Rat dem König schon so manches Mal aus der Bedrängnis geholfen hatte.

"Nicht mit Waffengewalt, nur durch List werden wir zum Ziele kommen'', mahnte Frute; "denn König Gooren pflegt die Boten derer, die seine schöne Tochter gewinnen wollen, sehr übel aufzunehmen.'' Auf seinen Rat reisten die Helden darum als fremde Kaufleute verkleidet nach Sturmland.

Im Walde von Baljan kamen sie an, baten um Gastfreundschaft, die man ihnen gewährte, und schlugen die Zelte auf, um ihre Waren feilzubieten: Waffen und Geräte, wertvolle Stoffe und kostbaren Schmuck an Spangen und Ringen.

Die Leute aus Goorens Burg strömten voll Neugierde herbei, und bald zog das Lob der köstlichen Waren und Kleinodien auch die Königin mit ihrer schönen Tochter in die Zelte der Fremden. Selbst König Gooren fand Gefallen an den Kaufleuten, die gar nicht wie gewöhnliche Krämer erschienen, und eines Tages lud er Wate und seine Gefährten an den Hof.

Im Königssaale saßen die Gäste aus dem Hegenlande der Königin und ihren Edelfrauen gegenüber. Mit welcher Freude schauten sie auf Halna, die liebliche Königstochter, der ihre Reise galt; doch ließen sie nichts von ihrem Vorhaben verlauten und gebärdeten sich weiterhin, als seien sie Kaufleute. "Nicht Krämer, sondern edle Recken sind sie", flüsterte Gooren seinem Marschall zu und blickte dabei wohlgefällig auf den starken Wate mit dem breiten Bart.

Lächelnd trat Königin Halan vor Wate hin: "Sagt ehrlich Eure Meinung", fragte sie scherzend. "Behagt Euch mehr der Umgang mit schönen Frauen, oder blickt Ihr lieber im Waffenspiel dem Gegner ins Auge?"

Der wackere Streiter ließ sich durch die Scherzfrage überrumpeln und gestand freimütig ein, jeder Gesellschaft schöner Frauen ziehe er den harten Waffenstreit vor. Da gab es fröhliches Gelächter, und als Gooren den Gast, der ein Kaufmann sein wollte, zum Wettkampf herausforderte, mußte er ihn bald voller Erstaunen und Beschämung als seinen Meister anerkennen.

Besonderes Gefallen aber fanden Frauen und Recken des Königshofes an Horand, dem Sänger, der durch seine Stimme aller Herzen gewann. Er sang so bezwingend, daß die Waldvögel in ihrem Gesang innehielten und die schöne Halna in ihrer Kemenate voll heimlichen Entzückens seiner Stimme lauschte. Niemals hatte sie solch bezaubernden Gesang vernommen. Schließlich konnte sie den lockenden Tönen nicht länger widerstehen und ließ den Sänger zu sich kommen.

Dort in ihrem Frauengemach sang Horand für sie eine Weise, die er noch niemandem gesungen hatte, auf der Reise hatte er sie von einer Dryade vernommen, die schöner sang als jedes Menschenwesen.

Jetzt offenbarte Horand der Königstochter die volle Wahrheit und berichtete ihr von Hetel, seinem Herrn, der nichts sehnlicher wünschte, als sie zur Frau zu gewinnen.

Die schöne Halna schien nicht abgeneigt, ihr Jawort zu geben. "Mein Vater wird niemals darein willigen, daß ich mit Euch in die Ferne ziehe," meinte sie jedoch zögernd.

"Gerade darum haben wir ja vorgetäuscht, Kaufleute zu sein", versetzte Horand, und so lockend wußte der kluge Sänger ihr seines Herrn Werbung vorzutragen, daß Halna schließlich einwilligte. Auch ohne die Zustimmung ihres Vaters wollte sie Horand folgen, und sie war bereit, sich von ihm und seinen Gefährten entführen zu lassen.

"Erbitte dir deines Vaters Erlaubnis, unser Lager zu besichtigen", schlug er ihr vor, "dann werden wir die Pferde satteln und in König Hetels Land reiten."

Die Flucht gelang. Ein günstiger Wind führte die Hegenländer in die Heimat, und König Hetel, dem Boten den glücklichen Ausgang der Reise berichtet hatten, nahte mit einem glänzenden Brautgeleite, um die schöne Halna heimzuführen. In fröhlichem Einverständnis gelobten sich beide Liebe und Treue. Aber noch ehe es Abend wurde, kam erschreckende Botschaft: König Gooren war mit seinem kampfstarken Heere bereits nahe der Grenze, um die geraubte Tochter zurückzuholen. Denn nicht anders glaubte der König, als daß Halna von Räubern entführt worden sei.

"Rüstet euch alle zum Kampfe!" gebot Hetel seinen Mannen, und so standen die Hegenländer zur Abwehr bereit, als König Gooren mit seinen Recken ankam.

Ein hartes, erbittertes Ringen begann. Wild flogen die schweren Speere, und dann standen die Kämpfer, das Schwert in der Faust, einander gegenüber. Gooren drang grimmig auf König Hetel ein und traf ihn schwer, und als man den Verwundeten vom Kampfplatz führte, ging Gooren kühn den starken Wate an. Zwei ebenbürtige Gegner standen einander gegenüber, Gooren durchschlug Wates Helm und verwundete ihn schwer. Der alte Recke ließ aber nicht vom Kampfe ab und brachte den König in harte Bedrängnis.

"Trenne" wenn du mich liebst, die beiden erbitterten Kämpfer!'' bat Halna, die alles mit angesehen hatte, König Hetel; "sie werden nicht ablassen von ihrem furchtbaren Streit, bis sie beide zugleich erschlagen zu Boden sinken.''

Da raffte Hetel, trotz seiner Verwundung, sich auf und eilte auf die Walstatt. "Laßt es genug sein der Toten, König Gooren!" rief er, "und stellt den unnützen Kampf ein, ihr Helden!" König Gooren, der Achtung hatte vor der Tapferkeit seines Gegners, folgte der Aufforderung König Hetels. Die beiden starken Streiter senkten die Waffen, und König Hetel bekannte, daß er Goorens Tochter habe entführen lassen, um sich mit ihr zu vermählen. "Als Königin der Hegenländer soll sie über alles Land herrschen'', gelobte König Hetel.

Da willigte Gooren ein und erklärte sich zur Versöhnung bereit. Er geleitete selber seine schöne Tochter in die neue Heimat und feierte auf Hetels Burg Matelane ihre Hochzeit mit dem König der Hegenländern, in guter Freundschaft und mit vielen Gastgeschenken schied Gooren von dannen.

In hohen Ehren lebte die schöne Halna viele Jahre an der Seite König Hetels, der sein Reich in Gerechtigkeit und Kraft regierte und schirmte. Sie hatten zwei Kinder, Ortwin, der unter der Obhut des alten Wate zu einem edlen Recken heranwuchs, und Cara, die an Schönheit sogar ihre Mutter überstrahlte.

Wie einst Gooren über seine Tochter Halna, so wachte nun König Hetel über die schöne Cara. Nur dem sollte sie gehören, den er ihrer würdig erachtete. Vergeblich warb Frid vom Moorland, der über sieben Reiche gebot, um sie; vergeblich bat auch Kordan, der Sohn König Birgens von den Westlanden, um ihre Hand.

Cara selber hätte sich dem edlen Recken, der sich durch stattlichen Wuchs und ritterliches Wesen auszeichnete, vielleicht wohl anvertraut; denn er brachte ihr aufrichtige Liebe entgegen. Doch ihr Vater Hetel wies den Freier stolz und hochfahrend ab, als bedeute dessen Werbung eine Kränkung seiner Ehre; Kordans Vater Birgen nämlich war ein Lehnsmann von König Gooren von Sturmland, und somit galt Kordan ihm als nicht ebenbürtig.

Voller Zorn nahm der junge Westlandfürst die Abweisung hin, er fühlte sich in seiner Ehre gekränkt und sann auf Rache.

Während Kordan unverrichteter Dinge heimkehrte, erschien König Herwig von Schneeland mit einem Heere vor Hetels Burg. Die Hegenländer mußten der Übermacht der Feinde weichen, und Herwig gelang es, mit seinen Mannen in die Burg einzudringen. König Hetel stellte sich Herwig im Burghof zum Kampfe. Aber als die schöne Cara Herwigs Heldenkraft und den Ernst seiner Werbung sah, entbrannte ihr Herz in Liebe zu ihm, und sie bat ihren Vater, um ihretwillen Frieden zu schließen. König Hetel gewährte ihr die Bitte, weil er erkannt hatte, daß Herwig seiner Tochter würdig war.

So wurden Cara und Herwig miteinander verlobt. Aber ein Jahr sollte die Brautzeit währen; denn Hetel und Halna wollten sich nicht so bald von ihrem geliebten Kinde trennen.

Doch ehe Herwig daran denken konnte, seine Braut heimzuführen, hatte er einen schweren Krieg zu bestehen. Der mächtige König Frid vom Moorland hatte in seinem Zorn über die Abweisung am Hegenlanderhofe Rache geschworen und wandte sich nun gegen Herwig von Schneeland, der glücklicher gewesen war als er. Herwig war nicht zum Kampfe gerüstet und geriet in schwere Not. Nur mit Hetels Hilfe, in dessen Heer auch der junge Ortwin, dazu Wate, Frute und Horand kämpften, wurde der mißgünstige Nebenbuhler in seine Burg zurückgeworfen. Dort belagerten ihn die Heere der Hegenländer und Schneeländer. "Nicht eher werde ich von hier weichen", rief König Hetel drohend, "als bis Frid, der Friedensbrecher, gefangen vor mir steht!"

In dieser Zeit aber, da die wehrhaften Männer fern der Heimat waren, brach das Verhängnis über Hetels Sippe herein. Kordan, den jungen Westlandfürsten, trieb die Rache wegen der Demütigung, die er an Hetels Hof erfahren hatte, wie auch die Liebe zu Cara zu schnellem Entschluß. Seine Späher meldeten ihm, daß König Hetel auf Heerfahrt sei.

Doch ehe Kordan ins Hegenländerreich einfiel, sandte er noch einmal Brautwerber nach Matelane. "Ich bin Herwig anverlobt", erklärte die stolze Cara "und mit keinem anderen werde ich mich vermählen."

Da griff der junge Westlandfürst zur Gewalt, wie er es angedroht hatte, berannte mit seinen Mannen die unbewehrte Königsburg und ließ Cara mit mehreren ihrer Jungfrauen, zu denen auch ihre Gespielin Hilda gehörte, ergreifen und nach Westen verschleppen.

Nur Königin Halna blieb in einsamem Schmerz zurück. Sie sandte Boten mit der Trauerkunde an König Hetel, und als dieser vernahm, was sich ereignet hatte, wollte ihn der Schmerz überwältigen. Aber Herwig rief: "Wir müssen sogleich den frechen Räuber verfolgen und ihm seine Beute abjagen." Auch Wate stimmte ihm zu, und er drängte darauf, mit Frid Frieden zu schließen. Der hartbedrängte König vom Moorland war auch dazu bereit, und als er erfuhr, daß Kordan die schöne Cara geraubt habe, entschloß er sich, an der Verfolgung teilzunehmen. Ohne zu säumen, bestiegen sie die Pferde und nahmen unter Wates Führung die Verfolgung auf.

Die Westlandkrieger dachten nicht an Gefahr und rasteten auf einem Hügel, dem WüIpensande. PIötzlich entdeckten die ausgestellten Wächter Reiter am Horizont. Die Westländer hatten kaum Zeit, sich zu rüsten, so schnell waren die Reiter heran. Die bewaffneten Hegenländer sprangen von den Pferden, und die Schlacht begann.

In wütendem Ringen wogte das Kampfglück hin und her. Der Sand rötete sich vom Blute der Erschlagenen, und rot färbte sich auch das Gras, ringsum war die Walstatt von Toten und Verwundeten bedeckt. Hetel stellte in wildem Zorn den Westlandkönig Birgens, Kordans Vater, zum Zweikampf; aber nach schwerem Ringen traf ihn Birgens Schwert, daß er sterbend zu Boden sank. Da wurde der Zorn des alten Wate zum Grimm eines reißenden Tieres. Brüllend vor Kampfeswut stürzte er sich in die Reihen der Kämpfer, um seinen Herrn zu rächen, viele Westländer fielen unter seinen Streichen.

Als der Abend herabsank, war die Schlacht immer noch nicht entschieden. Erst die hereinbrechende Finsternis trennte die Kämpfenden. In tiefer Ermattung sanken hüben und drüben die Streiter in den Schlaf. König Birgen wußte, daß er mit seinen Mannen auf die Dauer den Hegenländern nicht werde standhalten können. Deshalb führte er im Schutze der Nacht seine Krieger lautlos von dannen.

Als Wate in der Morgenfrühe das Heerhorn ertönen ließ, um den Kampf von neuem zu beginnen, war ringsum kein Feind mehr zu erblicken. Nur seine Toten bedeckten den Strand. Groß war die Enttäuschung der Hegenländer; denn sie mußten erkennen, daß sie nicht mehr die Kraft besaßen, den entwichenen Feinden zu folgen.

Da begruben die Überlebenden in tiefem Schmerz ihre Toten; auf das Grab des erschlagenen Königs Hetel wälzten sie einen gewaltigen Stein. Sechs Tage währte es, bis die Toten auf dem breiten Hügel bestattet waren. Auch die gefallenen Feinde begruben sie, damit die Leichen nicht den Raben zum Fraß dienten.

Dann ging die Reise heimwärts ins Hegenland. Ohne den Heerkönig, den starken Hetel, und ohne die schöne Cara, um deretwegen sie ausgezogen waren, mußten Wate und Herwig vor die Königin Halna treten, fast die ganze waffenfähige Mannschaft hatte den Tod gefunden.

Laut klagte Königin Halna, als sie diese Kunde vernahm. "Wir müssen sogleich zum Kampf gegen die räuberischen Westländer rüsten!" rief sie; doch Herwig zögerte, und Wate, der starke Kämpfer, wiegte bedächtig das Haupt: "Allzusehr sind von dem zweifachen Kriegszug unsere Kräfte erschöpft; erst wenn eine neue Waffenjugend herangewachsen ist, können wir daran denken, gegen die Westländer den Kampf zu erneuern." Auch Herwig versprach, nicht eher zu ruhen, als bis er Cara befreit und an Kordan gerächt habe.

Währenddessen ritten die Westländer durch das Land nach Westen. "Seht jene Burgen, Herrin", sagte Kordan zu der von Kummer gebeugten Cara, "über sie und all meine Lande sollt Ihr gebieten, wenn Ihr mich erhöret." Und auch König Birgen redete ihr gut zu.

"Lieber will ich sterben, als meinem Verlobten die Treue brechen", erwiderte Cara. In jähem Zorn ergriff sie der alte König und stieß sie vom Pferd. Aber Kordan sprang ihr nach. Drohend trat er vor seinen Vater. "Hätte ein anderer sich solchen Tuns erkühnt", rief er, "so hätte er es mit dem Leben büßen müssen!" Da faßte Reue den rauhen König, und er tat Abbitte bei Cara.

Als die Reiter in die Heimatstadt einritten, standen Kordans Mutter, die Königin Gerlind, und seine Schwester Ortrun am Wegesrand, um Cara freundlich zu empfangen. Doch diese wehrte weinend jeden Gruß ab. Trotzdem versuchte die Königin zunächst, die Entführte versöhnlich zu stimmen. Aber gegen sie wie auch gegen Kordan und alle andern blieb Cara abweisend und unzugänglich; nur zu Ortrun, die ihr stets liebreich entgegenkam, fühlte sie sich hingezogen.

Kordans Hoffnung, daß Cara ihm allmählich ihre Liebe zuwenden werde, erfüllte sich nicht. Zu sehr zürnte Cara dem Manne, der die Schuld an ihrem Unglück trug, und sie zeigte sich unversöhnlich, obwohl sie durch Ortrun wußte, daß Kordans Liebe aufrichtig war.

Als Cara sich fernerhin weigerte, mit Kordan Hochzeit zu halten, riet Gerlind dem Sohne, die Widerspenstige ihrer Zucht zu übergeben, so werde sich alles wohl fügen. Da willigte Kordan ein, bat jedoch die Mutter, Cara in Ehren zu halten, wie es ihr zustehe. So kam Cara, die Königstochter, in Frau Gerlinds Zucht und mußte schwere Magddienste verrichten. Gerlind quälte sie auch durch kränkende Worte und durch Strafen und gab ihr kärgliche Nahrung.

In schweigendem Stolz nahm Cara alle Pein geduldig auf sich. Aber die bittere Not verscheuchte die frische Farbe ihrer Wangen. Als Kordan von Caras Behandlung durch seine Mutter erfuhr, stellte er diese zur Rede, und Frau Gerlind versprach, Caras Los zu mildern. Trotzdem trug sie der Königstochter immer härtere Arbeiten auf.

Fortan mußte Cara am Flußufer die Wäsche waschen. Der einzige Trost für die gequälte Cara war, daß Hilda, ihre Gespielin, die Not mit ihr teilte. Mitten im eisigen Winter standen die beiden Mädchen am Flußufer und gingen ihrer schweren Arbeit nach.

Immer wieder richtete die Königstochter den Blick über das Wasser, dorthin, wo sie die ferne Heimat wußte. Hatte man sie denn dort ganz vergessen, glitt kein Reiter von Osten her, kam nicht der Verlobte, sie zu suchen und ihr Rettung zu bringen?

Die Jahre gingen hin. Immer quälender und drückender wurde Caras Los in der Fremde, und immer mehr schwand ihre Hoffnung auf Rettung und Heimkehr. Ob Herwig, ihr Verlobter, und ihr Bruder Ortwin und ihre Mutter Halna nicht mehr am Leben waren?

Einst standen Cara und Hilda wieder bei ihrer harten Arbeit am Ufer. Das Wetter war rauh und kalt; aber die grausame Gerlind hatte sich nicht gescheut, den beiden Jungfrauen sogar die Schuhe zu versagen; barfüßig, halb erstarrt vor Schmerz und Erschöpfung, so standen sie im Schnee am Fluß. Da sahen sie einen Vogel in den Wellen treiben, und in ihrer Sehnsucht riefen die Jungfrauen ihn an. Der Vogel aber antwortete ihnen mit Menschenstimme: "Harret mutig aus, ihr beiden Dulderinnen; die Rettung ist nahe!" Dann hob er sich in die Luft und flog davon.

Hatte der Vogel wahr gesprochen? Cara und Hilda faßten neuen Mut.

Als sie tags darauf wieder am Ufer die Wäsche spülten, schraken sie auf; ein Boot, in dem zwei Männer standen, näherte sich dem Ufer. Cara schämte sich und wollte sich verbergen, aber Hilda überredete sie zu bleiben.

"Wessen Wäsche wascht ihr denn?" fragten die Männer; sie schienen Mitleid zu haben mit den beiden Mädchen, die zitternd und windzerzaust so schwere Arbeit verrichten mußten. Bereitwillig gaben die Jungfrauen Auskunft; doch eine Belohnung, die man ihnen anbot, schlugen sie aus.

"Ihr seid im Westlande", sagte Cara, "und die Burg, die ihr dort seht, gehört dem König Birgen und seinem Sohne Kordan.''

Begierig vernahmen die Fremden, was Cara berichtete.

"Habt ihr etwas gehört von den Jungfrauen, die vor Jahren als Gefangene hierher verschleppt worden sind und von denen die eine Cara heißt?'' fragte der eine der beiden Männer.

"Ich kannte sie, denn ich gehöre selber zu den Gefangenen, die einst hierhergebracht wurden", antwortete Cara.

Da vernahm sie, wie der eine der beiden von seinem Gefährten Ortwin genannt wurde. "Ihr fragt nach der armen Cara'', sagte sie dann; "ich muß euch kundtun, daß sie schon längst ihrer Qual und Mühsal erlegen ist.''

Da wurden die Augen der beiden Helden naß. ,"Bis an mein Lebensende'', rief Herwig, "muß ich nun klagen um sie, die mir zur Ehe versprochen war!"

"Ihr wollt mich täuschen, wenn Ihr Cara Eure Braut nennt'', sagte die Jungfrau da. "Denn wäre Herwig am Leben, längst wäre er gekommen, mich zu befreien!"

Damit hatte Cara sich verraten. Nun wußten Ortwin und Herwig, daß Cara vor ihnen stand. Herwig zeigte ihr den Ring, den er einst aus ihrer Hand empfangen hatte, und sah an ihrer Hand den gleichen, den er ihr einst gegeben hatte.

Da umarmten und küßten sich die beiden Verlobten in unendlichem Glück. Ohne Verzug wollte Herwig die Mädchen mit sich führen. Dem widersetzte sich Ortwin: "Nicht feige wegstehlen wollen wir sie", sagte er, "sondern nach ehrlichem Kampfe werden wir Cara und die Mädchen befreien!" Sollen wir sie auch nur eine Stunde länger in der Knechtschaft leben lassen?" brauste Herwig auf. "Ich habe meine geliebte Braut wiedergefunden! Nun bringe ich sie in Sicherheit, und dann soll der Rachekampf beginnen, der Kampf um die Gefährtinnen Caras und Hildas!"

Aber der edle Ortwin bestand auf seiner Forderung: "Eher bleibe ich selber hier", rief er, "und lasse mich an der Schwester Seite von den westländischen Feinden niederstrecken. Nur in Ehren, Cara, sollst du befreit werden! Aber vertrau auf unsere Treue!" Da fügte Herwig sich dem Willen des Schwagers, das Versprechen der beiden Tapferen war für Cara Trost genug. Mit herzlichem Abschied gingen sie auseinander.

Freudige Hoffnung hatte Cara ergriffen, ihr Antlitz gewann wieder die blühende Farbe, und die Augen erhielten leuchtenden Glanz. "Wir müssen an die Arbeit gehen, sonst erwartet uns Strafe", mahnte Hilda; aber Cara wollte vom Waschen nichts mehr wissen. "Bin ich etwa eine Magd, die niedrige Dienste zu leisten hat?" rief sie, und lachend warf sie die Wäsche, die für sie das Zeichen der Knechtschaft war, in den Fluß. Königin Gerlind geriet in großen Zorn, als sie erfuhr, was Cara mit der Wäsche gemacht hatte. Sie ließ eine Rute binden und befahl, die Jungfrau zu züchtigen. Da antwortete Cara: "Ehe ich die Strafe erdulde, will ich zum Manne nehmen, den ich bisher nicht nahm. Bald wird das Westland mir, der Königin, dienen!"

Durch solche Worte ließ sich die Königin ihren Zorn besänftigen. Sie glaubte wirklich, Cara habe nun endlich ihren Sinn geändert und sei entschlossen, Kordan die Hand zum Ehebunde zu reichen. Sogleich ließ Gerlind ihn rufen. Doch als Kordan in ungläubiger Freude herbeieilte und die stolze Cara als seine Braut in die Arme schließen wollte, wies sie ihn zurück: "Seht, wie ich hier stehe, barfuß und im nassen Gewand, wie ich soeben vom Fluß heimgekommen bin. Nicht eher sollt Ihr mich berühren, als bis ich Euch ebenbürtig bin und die Krone auf meinem Haupte trage!"

Kordan fügte sich ihrem Willen und fragte nach ihren Wünschen. Da verlangte Cara königliche Gewänder für sich und angemessene Kleidung für ihre Jungfrauen. "Als Fürstin will ich morgen meinen Bräutigam empfangen!" sagte sie bedeutungsvoll .

Gerlinds Dienerinnen waren nun voller Eifer bereit, der eben noch so schmählich Mißhandelten behilflich zu sein. Nur Gerlind mißtraute Caras Sinneswandlung, als sie die Königstochter so fröhlich mit den Jungfrauen aus ihrer Heimat scherzen sah, und sie glaubte, ihren Sohn Kordan warnen zu müssen. Doch seine Liebeshoffnung hatte Kordan blind gemacht, und unbesorgt schlug er alle Mahnungen der Mutter in den Wind.

Als die Frauen aus dem Hegenlande dann zu später Abendzeit allein waren, offenbarte Cara ihnen die Wahrheit. "Habt Geduld bis morgen", sagte sie tröstend, "dann wird unser Leid endlich in Freude verwandelt werden!"

Ortwin und Herwig waren inzwischen zum Heer der Hegenländer zurückgekehrt und hatten mit ihrem Bericht überall frohe Hoffnung erweckt. Nun mußte das kühne Wagnis gelingen! Als die Nacht herabsank ritten sie bei Mondenschein zur Felsenbucht, wo die Westlandburg herüberdrohte. Glücklich gelangten die Helden über den Fluß, und voller Tatendurst rüsteten sie sich zum Kampfe. Cara selber, von einer ihrer Jungfrauen geweckt, sah mit heller Freude vom Fenster aus, wie das ganze Tal mit Fackeln voll war und wie die Schlachthaufen der Hegenländer sich zum Sturme bereit stellten. Die Burg war von allen Seiten umstellt. Erst jetzt ließ der westländische Wächter sein Horn erschallen, um die schlafenden Recken zum Kampfe zu rufen; doch zugleich tönte Wates Heerhorn schreckenerregend durch die Morgenfrühe.

Ein harter Kampf entbrannte. Kühn hatten die Westländer die Tore geöffnet, um den Feinden draußen vor den Burgmauern entgegenzutreten: doch bald zeigte es sich, daß sie der Kampfeswut der Hegenländer nicht gewachsen waren. König Birgen stieß auf Herwig, aber der junge König von Schneeland, dem der Gedanke an die wiedergefundene Cara die Kraft verdoppelte, schlug so wuchtig drein, daß König Birgen ihm unterlag: sterbend sank er zu Boden, und Herwig schlug ihm das Haupt ab.

Hoch auf den Zinnen der Burg stand Cara inmitten ihrer Jungfrauen und sah dem wechselvollen Kampfe mit fliegendem Atem zu. Immer stärker wurde die Überlegenheit der vordringenden Hegenländer. Selbst den tapferen Kordan, der überall im Vorkampfe gestanden hatte, verlangte es nach Rast. Aber als er sich mit seinen Mannen ins Tor zurückziehen wollte, versperrte der starke Wate ihm den Weg und stellte ihn zum Kampfe. Schwer fielen die Streiche der beiden gewaltigen Helden.

Da hörte Kordan, der noch nicht wußte, daß König Birgen gefallen war, seine Mutter laut den Tod des Gemahls beklagen. Zugleich äußerte sie das Verlangen, Cara tot vor sich zu sehen, und entsandte einen ihrer Knechte auf die Burgzinne. Cara schrie auf, als sie den Mann mit dem blanken Schwert auf sich zukommen sah, und mit diesem Notschrei aus Todesfurcht zog sie Kordans Blicke auf sich, der immer noch in schwerem Zweikampf mit dem grimmen Wate stand. Kordan eilte herbei, und furchtbar drohte der Westlandfürst, sich an dem gedungenen Mörder zu rächen; da ließ dieser das Schwert sinken und entfloh.

So hatte Kordan, obwohl selber in Todesnot, Cara das Leben gerettet, der immer noch seine Liebe galt.

Bedrängter wurde seine Lage, schon schien er verloren; da eilte Ortrun herbei und warf sich Cara zu Füßen. "Wende den Tod von meinem Bruder ab!" bat sie flehend; "mein Vater ist erschlagen und all die Meinen, nun erspare mir ein Schicksal, wie du es selber erlebt hast!''

Da hatte Cara Erbarmen mit der Königstochter, die stets freundlich zu ihr gewesen war, und von der Höhe herab winkte sie Herwig heran und bat ihn, die Kämpfenden zu trennen. Nur mit Mühe konnte Herwig ihre Bitte erfüllen. Zwar wurde Kordan dem Zorne des unbezwinglichen Wate entrissen; aber gefesselt führten Herwigs Mannen ihn zu den Pferden.

Damit war das Geschick der westländischen Königsburg entschieden. Furchtbar wütete Wate, der sich den Eingang erzwungen hatte, durch alle Gemächer. Er wollte Gericht halten mit Gerlind, die die Tochter seines Königs so grausam behandelt hatte. In ihrer Verzweiflung suchte die Königin Hilfe bei Cara, die schon Ortrun vor der Wut der Hegenländer beigestanden hatte. Voller Großmut gewährte die edle Cara auch ihrer Feindin Schutz und versteckte sie hinter sich. Aber Wate, furchtbar anzuschauen in seiner Kampfeswut, zerrte Gerlind hervor und ließ die Königin mit dem Tode büßen, was sie seiner Herrin angetan hatte.

Damit hatte der erbitterte Kampf ein Ende gefunden. In unendlichem Glück umarmte Cara den Verlobten und den Bruder, die ihr die Freiheit gebracht hatten.

Mit reicher Siegesbeute ging es sodann auf die Heimfahrt, Kordan und Ortrun wurden als Gefangene mitgeführt.

Frau Halna, die Hegenländerkönigin, hatte schon durch Boten den glückhaften Ausgang vernommen. Bald lag Cara in den Armen der Mutter. Nun endlich wußte sie, daß ihre lange Leidenszeit ein Ende gefunden hatte.

Die beiden westländischen Königskinder verwies Halna zunächst streng aus ihren Augen; später jedoch fügte sie sich Caras Fürsprache. Ortwin nämlich hatte die schöne Ortrun liebgewonnen und warb um ihre Liebe, und auch Kordan gegenüber ließ die Königin von ihrem Groll und gewährte ihm Verzeihung und Freiheit. Da bat der junge Westlandfürst die treue Hilda um ihre Hand, und als bald darauf Cara und Herwig den Lebensbund schlossen, für den Cara sich neun Jahre lang bereit gehalten hatte, da sah die Hochzeitsfeier im Hegenlande drei glückliche Brautpaare.

Eine lange Friedenszeit folgte nach den schrecklichen Jahren der Entbehrung und des Krieges. Caras Schönheit erblühte von neuem, und ihre Treue, die sie so viele Jahre hindurch bewahrt hatte, wurde in allen Landen besungen.

 

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